S 31, kurz vor Neuwiedenthal

Die Welt befindet sich in ständiger Auflösung. Wir wollen es nur nicht wahr haben. Wir tun alles, um das kindliche Gefühl der unendlichen Ewigkeit zu behalten. Ich bin immer. Die Sonne meiner Welt geht erst auf. Bis die unserer Eltern, Freunde, Bekannten, Verwandten untergeht. Die unserer Großeltern. Unserer Tanten und Onkels. Unserer Familien.

Die Wurzeln die uns getragen haben werden das Luftschloß unserer Erinnerungen. Und wir müssen auf einmal die Wurzeln sein für die, die nach uns kommen.

Ich bin traurig. Wie damals als Kind. Als mir ein Versprechen gebrochen wurde, an dessen Erfüllung ich so geglaubt hatte. Ich war maßlos enttäuscht. Erfuhr zum ersten Mal das nichts bleibt. Es gibt nichts, was diese erste Enttäuschung rückgängig machen kann.

Ich habe noch nicht viel von dem erreicht, wonach es mich drängt. Aber selbst wenn ich einmal die ganze Welt besessen haben sollte, wird das Gefühl nicht aufhören, länger leben zu wollen, um das, was es noch alles gibt, erleben zu können.

Wie sagte die 95 jährige Großtante meines Freundes, die unbedingt 100 werden wollte: „Bis Hundert sind es ja nur noch fünf Jahre!“ Ich konnte sie so verstehen.

Warum gehört das Verlieren zum Leben dazu? Wer braucht den Schmerz?

Mein einziges Zuhause ist der Gesang. Denn wenn ich singe ist immer Jetzt. Die Zeit steht. Ich kann sie für einen kleinen Moment anhalten. Der Schmerz tut noch weh, ist aber gleichzeitig nicht mehr so schlimm. Das Schöne ist schöner. Die Töne umarmen mich auf ewig. Ich habe keine Angst. Bin für immer aufgehoben.

Bus Linie 3 Richtung Bernstorffstrasse, Sonntag Abends

Na toll. Monate lang passieren die dollsten Sachen beim HVV fahren und ich philosophiere gedanklich in immer neuen Schleifen darüber, endlich diesen Blog einzurichten. Jetzt isser da und: Nischt is’!
Alles absolut im normalen, nicht erwähnenswerten Bereich.

Es nieselt. Der Bus ist feucht, der Abend wird wieder schneller dunkler. Der Restsonntag wabert träge seinem Ende entgegen.  Die Busfrequenz ist für das Wetter zu niedrig. Meine Ungeduld macht mich hibbelig. Ich plane aus Langeweile meine kommende Woche im Kopf vor und stelle fest, dass ich mal wieder mindestens zwei Leben brauche, um alles zu schaffen, was ich schaffen will. Chaos droht. Rettung naht. In der Erkenntnis, dass ich doch mittlerweile gelernt haben sollte, dass ich erfolgreich bin, wenn ich schon die Hälfte meines Planes gebacken kriege. Was die ganze Kopfluftblase wieder auf ein – machbares – Leben reduziert.

Mit neu gewonnener Bodenhaftung, und aus unerfindlichen Gründen zufriedener werdend, steige ich an der nächsten Haltestelle aus und ergebe mich auf dem Sofa, hin und her zappend, einem mittelalten James Bond und der aktuellen Tatort-Folge:

007 wird gefangen genommen, zu Madonnas Musik gefoltert, ausgetauscht, von M kaltgestellt. Jetzt nur noch James, der Doppelnull Status wurde ihm gerade aberkannt, befreit sich aus der Krankenstation, schwimmt nachts durch einen großen Fluss und läuft, wie Jesus, im offenen Pyjama, durch die Lobby eines asiatischen Nobelhotels, um sich an der Rezeption nonchalant einen Schneider, eine Flasche guten Wein und einen Frisör in die Präsidentensuite zu bestellen. Was für ein Opener!

Der Tatort dagegen ist sehr „hier und jetzt“. Das Ermittlerduo verstrickt sich in den Beziehungsgeflechten der zu observierenden Verdächtigen. Es ist auch dunkel. Das Wetter ebenfalls nicht gut und ebenfalls grau. Pärchen streiten und zerstören ihre Zukunft, Gegenwart und Vergangenheit. Gefahr droht. Aber subtiler, realistischer, schleichender.

Ich kann schon bald nicht mehr folgen. Bin deprimiert und beschließe, meinem Fernsehüberlebenswillen nachgebend,  beim altbewährtem „geschüttelt und nicht gerührt“ zu bleiben. Der Fortgang der Geschichte ist immer nur eine Variation. Das Ende der „Intellektuellen Soap“ bekannt. Ich schlafe noch vor den Tagesthemen.

Irgend eine Bahn, Irgendwo

Mir geht zu viel im Kopf rum. Ich habe keine Augen für die Leute. Heute ist mir egal was da draußen passiert. Sendepause. Sollen mich alle in Ruhe lassen. Basta. Aus. Ende. Weiß nicht in welcher verdammten Bahn ich gerade bin. Surfe durch die Stadt. In der Hoffnung mich zu vergessen. In der Hoffnung nirgendwo anzukommen. Setze meine Kopfhörer auf und stelle die Musik auf volle Pulle. Bisses weh tut. Bis ich in Schutt und Asche liege. Boom, boom, boom. I got a date with the night. Don’t push me, cause I’m close to the edge. Boom, boom, boom. Tür auf. Bahnsteig wechseln. Tür zu. Weiterfahren. Boom, boom. Bis ich in Schutt und Asche liege. Bis ich bereit bin nach Hause zu kriechen und den nächsten Tag zu meistern. Endlich. Boom. Boom. Boom.

Neulich in der S-Bahn aus Richtung Blankenese

Zwanzig vor Acht. Morgens. Ich sitze in der S-Bahn und fahre ziellos durch die Stadt. Mein Kumpel Dag würde sagen, ich fahre Sozialcontainer. Er läuft lieber zu Fuß. Bei Sonne, bei Schnee, bei Regen. Braucht ’ne Stunde für nich’ mal zwei Kilometer. Egal. Er hält die Menschen hier nicht aus. Ich mag das. Je nachdem, wo ich gerade bin, fahren komplett andere Leute mit mir. Ich wette, ihr könntet mir Bilder von Fahrgästen vorlegen und ich sage Euch, in welcher Linie wir uns wo gerade befinden. So viel zum Thema Bahn U- und S-Bahn fahren.

Haltestelle Reeperbahn
Jetzt beginnt das große Fahrgastcrossover. Der feine Westen muß den Kiez noch volle vier Stationen bis zum Hauptbahnhof aushalten. S-Bahn fahren hat was äußerst demokratisches. Finde ich.

Haltestelle Jungfernstieg
Noch zwei Stationen. – Als ich nach Hamburg kam, habe ich gleich im ersten Winter eine Geschichte erlebt, die zu gut für die Wahrheit ist. In der gelben Linie, Höhe Borgweg, fing ein Obdachloser an ein Feuerchen zwischen den Sitzen zu machen. Sein Kopf und Oberkörper verschwand und tauchte im Rhythmus wieder auf. Untermalt von kleinen, aufsteigenden Rauchwölkchen. Keiner und keine der anderen im Wagen haben sich getraut was zu sagen. Niemand ist hingegangen. Ein paar Fahrgäste stiegen an der nächsten Haltestelle schnell und wortlos aus. In ihren Augen Angst um ihr schnödes Leben. Ihm war schlicht und innig kalt. So ging es einige Zeit weiter. Ich glaube es waren zwei bis drei Haltestellen, bis ein Schaffner draußen das Feuerchen entdeckte und den Obdachlosen rüde aufforderte es auszumachen. Aber dalli. „Na gut“ raunzte der Opi. Seine Füße begannen laut zu trampeln. Dann Ruhe. Und Weiterfahren.

Haltestelle Hauptbahnhof
Willkommen im Supergau. In der morgendlichen Rushhour. Im Clash der Nationen, der Schichten, der Stadtteile. Willkommen im Herzen der Stadt.

02.08.10 HVV Fähre Richtung Övegönne

Sommerzeit. Es ist warm, doch der Himmel ist grau. Ich sitze oben an Deck zwischen Haufen von Touristen. Ich denke an den Sonnenuntergang auf der öffentlichen Fähre in Brisbane und  an die abenteuerlichen An- und Ablegemannöver  der Fähren der Nahverkehrsbetriebe in Bangkok. Großes Kino für umgerechnet ein paar Cent. Oder sogar All incl. im Tagesticket. Der Mut sich unter das gemeine Volk zu mischen wird mit einer prallen Ladung schönsten Lebens belohnt. Der Fluß so breit und der Himmel so hoch wie das Fernweh. Beim Fähre fahren in Hamburg hole ich mir jedes Mal ein kleines Stück davon zurück.

Heute kann sich das Wetter nicht entscheiden. Bleibt das Grau hell und licht oder wird es sich verdunkeln und beschweren bis der Regen fällt. Ein Vogel fliegt dicht vor der Nase des Schiffes vorbei, um dann senkrecht Richtung Himmel durchzustarten. Ich denke an Amina, drei, die vorgestern zu mir sagte: “Ich bin so groß wie der Himmel, aber fliegen kann ich noch nicht.“ Wobei die Betonung mit der größten Selbstverständlichkeit dieser Welt auf dem „noch“ lag. „Wenn ich ein Vogel bin kann ich fliegen.“

Ich bin tief berührt, ob so viel Unendlichkeit. Das Schiff tutet. Der Wind weht. Die Krähne haben einen neuen Container am Haken und da spricht Gott durch dieses Kind.

Sonntag Mittag, 20.6., in der Buslinie 15 von Altona in die Schanze

Der Bus ist außergewöhnlich voll. Eigentlich kein Wunder denn die Fahrt ist den ganzen Tag umsonst. Autofreier Sonntag. Wie phantastisch wäre das, wenn Bus und Bahn fahren immer umsonst wäre. Und noch viel mehr von diesen Mobilen unsere Strassen und Schienen bevölkern würden.

Ich sitze kurz vor der hinteren Eingangstür. An jeder Haltestelle kommen und gehen viele neue Menschen. Nur einmal ist der Platz an der Tür ziemlich leer und ein junger Mann in Shorts und mit Wasserflasche, offensichtlich kommt er vom Joggen, steigt ein, und bleibt in der Tür stehen. Ich werfe einen kurzen Blick auf ihn und plötzlich beginnt mein „was wäre wenn“ Gedankenspiel:

Was wäre wenn der Jogger in meinem Rücken ein Selbstmordattentäter wäre und genau jetzt eine Bombe zünden würde? In so einem unverdächtigen Moment, in so einem banalen Ausschnitt des Lebens.

“Es wäre schnell mit mir vorbei, weil sofort mein Kopf, mein Bauch, einfach alles, explodieren würde. Ich wäre schneller tot als ich den Gedanken denken könnte“ denke ich. Spontane Traurigkeit überfällt mich, weil ich wieder mal merke wie endlich das Leben ist. Und wie viele Dinge ich noch gerne erleben möchte. Aber gleich danach beruhigt es mich auch ungemein, zu wissen, das ich nicht leiden würde.

“So muß das in Israel oder in Afghanistan oder in Moskau oder sonst noch wo sein.“ Denke ich dann. Wie unsicher doch das Leben ist. Nie mehr Bus fahren? Sicherheitshalber? Das hieße wohl auch, nie mehr vor die Haustür gehen, sicherheitshalber.

Als der Bus die Sternbrücke erreicht, kommt mir, zum wiederholten mal, das „Recht auf Stadt“ und die ganze Bewegung dahinter, in den Sinn. Es zerreißt mir das Herz zu sehen, wie mein Viertel zu hip zum Leben wird und doch immer noch zu schön zum Sterben ist.

Selbst meine Nachbarn, die äußerlich so sind wie Du und ich, wollen aus der Vermietung ihrer Wohnung den maximalen Gewinn ziehen. 16 € den Quadratmeter. „Wenn über der Kneipe schon 12 € kalt gehen“ ist ihr Kommentar. „Irgendwer will unbedingt hier wohnen und wird die Wohnung zu dem Preis nehmen“ sagen sie, als wir meinen, dass das zu hoch gegriffen ist. Wo ist hier bitte schön der Unterschied zur internationalen Investorengruppe die gerade Gebäude und Häuser aufkauft um sie in Zukunft mit maximalem Gewinn wieder los zu werden? Ist das Viertel erst zerschunden wird einfach weiter gezogen. Der persönliche Vorteil ist eingefahren. Nach uns die Sinnflut.

So scheint das Gesetz der Stadt zu sein, und will doch nicht in meinen Kopf rein, der anscheinend einige Hippieideale konserviert hat. Ein bisschen benebelt von so viel Gedankenspannbreite taumele ich Richtung Fußgängerampel am Schulterblatt.

Willhelmsburg, Bus der Linie 13, 19.7.10

Es ist heiß. Noch nicht unerträglich aber schon ganz ordentlich. Ich sitze in der 13 Richtung S-Bahn Vettel. Der Bus ist voll. Andere Nationen als zum Beispiel in der Schanze sind mit an Bord. Das Leben ist so normal hier, das es fast weh tut. Mamas, die meisten jünger als in oben erwähntem Stadtteil, mit ihren Kindern – mit und ohne Kinderwagen. Männer die von der Schicht kommen oder die keinen Job haben. Schulkinder und Teens auf dem Weg nach Hause, mit dem Handy am Ohr, leisten mir Gesellschaft.

Die Hitze macht, dass die Geruchsgrenze aufgehoben wird. Das kann zum einen unerträglich sein, ist zum anderen aber auch der Sofort Lift ins Hier und Jetzt. Ich kann mich den Menschen nicht entziehen. Muß denjeniegen der mir seinen DNA Code in die Nase weht einfach visuell unter die Lupe nehmen. Mache mir ein Bild von ihm, ohne das geringste über diesen Mann zu wissen. Nur seinen Duft, den kenne ich jetzt. Und der rückt mir so nahe, das ich am liebsten wie Quecksilber, nach einem Schlag mit dem Hammer, in 1000  Kügelchen zerspringen und in die andere Ecke des Busses rollen möchte.

Als ich es nicht mehr aushalte bin ich angekommen. Ich setze mich an der frischen Luft wieder aus meinen Einzelteilen zusammen und werde unter Schüler, die rabenschwarz sind und Kevin heißen, gespült. „Hey Digger, was geht?“ – Oh, hier geht einiges!

Hallo Welt!

Ich bin Puder und dies ist mein Blog übers Bahnfahren. Ich fahre auf der ganzen Welt Bus und Bahn. Sehr oft auch durch Hamburg. Weil ich es liebe ohne Auto von hier nach da zu kommen. Weil es hier ein gut funktionierendes Nahverkehrssystem gibt. Weil ich so einiges über die Stadt und ihre Menschen erfahre. Einiges mehr. Viel mehr.

PuderZucker ist aber auch der Name des Hamburg-Musik-Theater-Roadmovies an dem ich arbeite und das die besten Bahngeschichten dieses Blogs enthalten wird.

Herzlich willkommen, die Fahrt beginnt.